Der Tourismus hat in den letzten Jahren eine größere Transformation durchlebt

Mag. Silke Seemann
Mag. Silke Seemann
Mag. (FH) Dr. Silke Seemann, Universitätsdozentin, Tourismusexpertin und Gründerin der Austrian Hideaways über Digitalisierung, Generation Y und Z sowie die Neuordnung der Personalentwicklung.

Ich sehe die Veränderungen im Tourismus im Kontext des globalen gesellschaftlichen Wandels. Impulsgeber ist die globale Vernetzung der Kommunikationen, Treiber ist die Digitalisierung. Viele Prozesse sind ortsunabhängig geworden und Kommunikation wird zunehmend asynchron. Diese Entkoppelung von Ort und Zeit gestaltet andere Formen des Miteinander. Die Aufhebung der Unterscheidung von Arbeit und Freizeit verlangt nach neuen sozialen Praktiken. Wir könnten sagen, wir üben global und über alle kulturellen Grenzen hinweg. Trans- und Cross -genertional, -gender, -culture, -disziplinär etc. zeigt sprachlich, dass es um Grenzüberschreitungen und die Verbindung von bisher als getrennt Wahrgenommenem geht.

 

Wir müssen lernen, anders zu denken. Dazu gehört auch, dass sich unsere Sprache ändert. Für das Neue braucht es neue Begriffe, wenn das, was da kommt, in unserem Denken Platz haben soll. Ich habe mit Matthias Horx auch an der Zeppelin Universität gearbeitet – da haben wir mit den Studierenden herausgearbeitet, dass die Begriffe, die Horx schafft, für Leerstellen im Hirn sorgen, die dann von dem Neuen besetzt werden können. Das brauchen wir auch in der Hotellerie. Damit sind alle Generationen überfordert. In dem Moment, in dem wir wissen, dass wir es mit einer Zumutung zu tun haben, können wir aufhören uns aufzuregen und damit beginnen, gemeinsam neue Strukturen zu schaffen, die uns anschlussfähig machen.

 

Irritierend ist der Schrei nach Fachkräften in einer Branche, in der die notwendigen Fähigkeiten relativ schnell zu erlernen sind und unzählige Angelernte zeigen, dass viele Aufgaben so kombiniert werden können, dass sie gut lernbar sind. Das bedeutet aber, traditionelle Berufsbilder aufzubrechen und am Bedarf orientierte Kompetenzfelder je neu zu definieren. Verrückt ist, dass das alles abzusehen war, die Bereitschaft hinzuschauen kommt aber erst in einem Moment, in dem eine Ressource schlicht weg nicht mehr da ist: Mitarbeiter! Hierarchische Strukturen, Arbeitsbedingungen, die vorgegeben sind und Arbeitszeiten, die außerhalb sozialer Anbindung liegen, können mit keinem Gehalt aufgewogen werden. In einer Gesellschaft, die dabei ist, sich von Konsum auf soziale Bindung umzustellen, ist das Gehalt nur ein Kriterium unter vielen.

 

Wir müssen uns außerdem alle dafür einsetzen, dass Preise adäquat angepasst werden und die Erwartungen an die Gastronomie realistisch werden. Essen darf etwas kosten. Und die Produktion der Gerichte muss vom Finishing getrennt gedacht werden. Die Logistik in der Gastronomie macht das schon lange möglich. Die Betriebe müssen sich umstellen und dazu lernen. Köche müssen ihr Selbstverständnis ebenso anpassen, wie es Fotografen gelungen ist – auch Fotografen haben sich lange gegen die Digitalisierung gewehrt. Selbstverständlich gibt es noch einige Spezialisten, die mit Plattenkameras operieren; aber nicht im Alltag und zu exklusiven Preisen. Wer sein Essen also von Experten zeitnah zum Verzehr zubereiten lassen möchte, muss bereit sein, exklusive Preise als adäquat zu verstehen. Alle anderen sollten sich darüber freuen, dass sie eine neue Vielfalt in hervorragender Qualität zu moderaten Preisen angeboten bekommen. Vegan, vegetarisch oder flexitarisch, mit oder ohne Gluten, Kohlehydrate und was immer vermieden oder intensiv nachgefragt werden wird. Die Trennung von Produktion und Finishing im Zusammenspiel mit intelligent digitalisiertem Küchengerät und hochprofessionellen Produktionsbetrieben macht es möglich. Dann auch zu moderaten Preisen und für die Mitarbeiter in familienfreundlichen Arbeitszeiten.

 

Der zweite große Change wird im Businessmodelling bzw. der Organisationsgestaltung und Arbeitsteilung in der Hotellerie kommen. Die strategische Führung muss sich professionalisieren und im operativen Bereich muss umgestellt werden auf Arbeitsteilung in Mini-Chunks, die flexibel nach Verfügbarkeit und Vorlieben der Mitarbeiter über KI blockchainbasiert vom Personal selbst verteilt werden. Dabei übernimmt künstliche Intelligenz die Aufgabe der Kosten-Nutzenabwägung und die Blockchainbuchhaltung sorgt dafür, dass jede Tätigkeit erfasst und vergütet wird. Es wird ermöglicht, dass unbeliebte Arbeiten besser bezahlt werden als beliebte Arbeiten. Kollegen, die anderen Kollegen eine Fertigkeit vermitteln, werden kollegial bezahlt, die Blockchain macht es möglich. Vorgaben der Sozialversicherung und des Arbeitsrechts sind im System als feste Parameter implementiert. Abgerechnet wird sofort nach Leistungserbringung. Es ist also denkbar, dass das System errechnet, dass es für das Hotel sinnvoll sein kann, an einem Samstag zwischen 10:00 und 15:00 Uhr €45/Stunde für Zimmerreinigung zu zahlen. Das System sendet eine SMS an alle Menschen in der Umgebung des Unternehmens, die eine Berechtigung haben, Zimmer zu reinigen und über eine im Unternehmen registrierte Sozialversicherungsnummer verfügen sowie eine Freischaltung ab €45 eingegeben haben. Es werden dann nur die angefragt, die bereit wären. Wer zuerst antwortet, hat den Job. So kann jemand in zehn Stunden Arbeit sein Geringfügigkeitskontingent ausschöpfen. Direkt nach der Arbeit kann das Entgelt auf dem Konto des Beschäftigten verfügbar sein. Diese Möglichkeiten schaffen neue Attraktivität.

 

Die Menschen wollen selbstbestimmter und flexibler agieren. Da überschneiden sich die Bedürfnisse von Mitarbeitern und Gästen. Wir brauchen Organisationen, die in der Lage sind, dass sich beide Interessengruppen miteinander abstimmen können. Leistung on demand ist die darunter liegende Logik. Wir nennen das die Souveränität des Gastes. Solche Systeme scheitern noch an starren Strukturen, die zu einer Zeit geschaffen wurden, als Arbeiter und Unternehmer in einem ungleichen Machtverhältnis eines Ausgleichs bedurften. Welche Rolle spielt die Arbeiterkammer in Österreich oder die Gewerkschaft in Deutschland, wenn nicht Arbeit, sondern Mitarbeiter die knappe Ressource sind und das Machtgefüge sich umgekehrt hat im Vergleich zu der Zeit, als diese Strukturen entwickelt wurden? Hier werden zum Selbsterhalt noch immer alte Klischees adressiert, die schon lange nichts mehr mit der betrieblichen Praxis gemein haben. Es ist nicht nur auf Ebene der Unternehmen Veränderungsbedarf zu analysieren, es muss auch die Struktur des Angebots auf einer regionalen Ebene im Hinblick auf globale Ströme unter Beobachtung genommen werden. Die Definition der Region muss aus der Perspektive des Gastes und nicht der Bezirksbehörde oder nationalen Grenze abgeleitet werden. Unsere Gäste nehmen Europa als Ganzes wahr, wohingegen die Tourismusverbände zweier Lokalstädtchen nicht kooperationsfähig sind. Betriebe in einer Region müssen ihre Potenziale im Hinblick auf Kooperationen untersuchen und sich nicht im Wettbewerb gegenseitig die Überlebensgrundlage abschöpfen. Die Grenzen des Möglichen sind in den Köpfen der Beteiligten. Wir kooperieren als kleines Haus mit dem größten Resort Hotel in unserer Gegend. So gewinnen alle. Gemeinsam lernen wir und beobachten uns aus unterschiedlichen Perspektiven. Das ist der Gewinn von Diversity. Diese Chance verschenken die meisten Unternehmen. Das Lesehotel, das letztes Jahr an den Start gegangen ist, ist ein Cross-Industry-Innovation-Projekt. Es vernetzt Verlagswesen mit der Hotellerie und unser erstes gemeinsames Produkt ist „Zeit zum Lesen“ – das kann man in Buchhandlungen in einer netten Geschenkbox analog kaufen und verschenken oder digital über einen Gutscheinshop erwerben. Gemeinsam mit über 20 Verlagen garantieren wir unseren Gästen immer ein Haus voller Neuerscheinungen und Veranstaltungen, die es in diesen Formaten woanders nicht gibt. Die Entwicklung ist schwierig, komplex und ungemein inspirierend. Das Ziel ist sowohl das Verlagswesen zu notwendigen Veränderungen anzuregen als auch die Hotellerie. Für Gäste und Kunden werden neue Potenziale entwickelt. Es ist unglaublich, mit welchen Ideen unsere Gäste das Projekt bereichern und welches Feedback wir bekommen.

Mag. Dr. Silke Seemann
Mag. Silke Seemann

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte Sie auch interessieren…